Fazal Sheikh - Erasure (Review in German)

Es ist eines der Themen mit der größten politischen Sprengkraft in Israel: die Auseinandersetzung mit dem ersten arabisch-israelischen Krieg aus palästinensischer Perspektive. Was für die Israelis bis heute als der heroische Unabhängigkeitskrieg firmiert, wird im palästinensischen Narrativ als die „Naqba“, die große Katastrophe bezeichnet. Damit wird auf die Zerstörung hunderter Dörfer und die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser aus ihrer Heimat in den Jahren 1948 und 1949 Bezug genommen. Der amerikanische Fotograf Fazal Sheikh hat dies zum Thema seiner Arbeit gemacht und unter dem Titel „Erasure“ dazu ein Fotobuch im Göttinger Steidl Verlag veröffentlicht.



Das Buch kommt in einem schweren, rotbraun getönten Schuber daher. „Erasure“ ist eine Trilogie bestehend aus den drei Bänden „Memory Trace“, „Independence/ Nakba“ und  „Desert Bloom“ sowie dem Heft „Notes“ mit detaillierten Bildunterschriften und Kontextualisierungen zum Band „Desert Bloom“. „Independence / Nakba“ besteht aus 65 Dyptichen. Für die 65 Jahre, die zwischen dem ersten arabisch-israelischen Krieg und Sheiks Aufenthalt in der Region liegen, wird je eine/n Palästinenser/in und eine/n Israeli porträtiert. Fotografisch greift Sheikh dabei auf schlichte schwarz-weiße Porträts in Form von Kopfbildern in Frontalansicht zurück. Der Band „Memory Trace“ dagegen widmet sich den im ersten arabisch-israelischen Krieg zerstörten palästinensischen Dörfern. Über Fotos von Ruinen, verlassenen Gärten, einzelnen Porträts von Vertriebenen und kurzen Texten zum Schicksal der Dörfer wird diese vergessene Geschichte lebendig.



Der umfangreichste und visuell spannendste Teil des Projekts ist die Serie „Desert Bloom“. Sie besteht aus Dutzenden von Luftaufnahmen der Negevwüste im Süden Israel, einst Heimat arabischer Beduinen und heute eine wichtige Landressource Israels. Auf den Bildern wechseln sich akkurat gezogene Ackerfurchen mit Gesteinsformationen und Wegen ab. Hier wird deutlich, wie militärische und planerische Eingriffe die einstige Naturlandschaft einer extremen Transformation zugeführt haben. Den Preis dafür zahlt vor allem die Beduinenbevölkerung, die seit Jahrhunderten in der Negev gesiedelt hat. Ihres Nomadenlebens weitestgehend beraubt, leben sie heute vor allem in sogenannten „Unrecognized Villages“.



Besonders deutlich wird der politische Konflikt in der Negevwüste am Fall des Beduinen Dorfes Al-Araqib. Unzählige Male wurde es vom israelischen Staat zerstört und von den Bewohnern wieder aufgebaut. Das Dorf steht dem Ambassador Forest im Weg, der dort vom Jewish National Fund geplant und umgesetzt wird. Auch deutsche Gelder sind daran beteiligt. Die politische Sprengkraft und die Kosten der Vision des ersten israelischen Staatspräsidenten, David Ben Gurion, die Wüste zum Blühen zu bringen, wird hier besonders stark deutlich. Sheikh zeigt in einer Vielzahl von Bildern die Veränderung der Landschaft an diesem Ort auf. Zusammen mit dem israelischen Wissenschaftler Eyal Weizman hat Sheikh die Geschichte von Al-Araqib auch in einem eigenen Band unter dem Titel „The Conflict Shoreline: Colonizations as Climate Change in the Negev Desert“ verarbeitet, der ebenfalls im Steidl Verlag erschienen ist.



Nach Israel kam Fazal Sheikh, der sich bis dato vor allem über Porträtarbeiten von Flüchtlingen einen Namen gemacht hatte, auf Einladung des französischen Fotografen Frédéric Brenner. Dieser hatte für sein Projekt „This Place“ 11 internationale Fotografen eingeladen, in Israel und der Westbank zu arbeiten. Darunter waren so bekannte Namen wie Joseph Koudelka, Stephen Shore oder Thomas Struth. Zwischen 2009 und 2012 arbeiteten Sheikh und seine Kollegen in zum Teil mehrmonatigen Residenzen an ihren Projekten. Für Brenner bestand das Ziel des Projekts darin, „eine nicht dual konnotierte Perspektive zu entwickeln, die über das Dafür und Dagegen, über Opfer- und Täter-

Blickwinkel und über die politischen Narrative hinausgeht“, wie er es im Interview mit dem ND schilderte. Die begleitende Ausstellung hatte im vergangenen Jahr in Prag Welt- und Europapremiere und tourt seitdem um die Welt. Ab dem Herbst ist sie in den USA zu sehen.



Fazahl Sheikhs Projekt ist eine der politischsten Arbeiten von „This Place“ und setzt exemplarisch Brenners Vision um. Ohne Scheu greift er mit der Naqba eines der Tabuthemen des Konflikts auf und entwickelt dafür eine überzeugende Form der visuellen Umsetzung. Damit setzt er sich von anderen Arbeiten wie denen von Thomas Struth und Jeff Wall ab, die eher an der Oberfläche kratzen. Schade ist nur, dass die vom Steidl Verlag verantwortete Buchgestaltung etwas altbacken daher kommt. Aber es ist trotz allem ein überzeugendes Fotobuch, das einen nicht nur mit seinen hervorragenden Fotografien in den Bann zieht und sondern dem Leser auch ein unterbelichtetes hochbrisantes politisches Thema näher bringt.



Fazal Sheikh: Erasure, Steidl Verlag, 438 Seiten, gebunden im Schuber, ISBN 978-3-86930-805-0, 98 Euro



Eyal Weizman / Fazal Sheikh: The Conflict Shoreline: Colonization as Climate Change in the Negev Desert, Steidl Verlag, 96 Seiten, Fester Einband, ISBN 978-3-95829-035-8, 30,00 Euro